Epilepsie bei Katzen: Differenzialdiagnostik beim Tierarzt

 

Rund 2–3 % aller Katzen bei Tierärzten/Tierarztpraxen werden mit Anfallsgeschehen vorgestellt - das sind demnach bei 14,8 Millionen Hauskatzen in Deutschland 286 000 bis 429 000 Fellnasen. Es gibt viele Erkrankungen & Störungen die Anfälle bei Katzen verursachen. Die Symptome können sowohl einzeln als auch kombiniert auftreten. Anamnese, Symptome und neurologische Untersuchungen stehen dabei meist im Zusammenhang mit der Ursache. Aus diesem Grund ist die Erhebung einer ausführlichen Anamnese, gefolgt von einer eingehenden Untersuchung wichtig. Oft reicht dieses Vorgehen bereits, um eine differenzialdiagnostische Diagnoseliste aufzustellen, auf die sich die weitere Diagnosefindung stützt. Diese Diagnoseliste beinhaltet der Wahrscheinlichkeit nach in absteigender Reihenfolge die Krankheiten, die zu den Anfällen führen. Damit ist sie ein wichtiger Bestandteil bei der Auswahl und Bewertung von diagnostischen Untersuchungen. 

Punkte für die Erstellung einer differenzialdiagnostischen Diagnoseliste

  • Signalement z.B. Prädisposition (Anlage/Empfänglichkeit) der Rasse
  • Alter bei Anfallsbeginn
  • Vorhandensein oder Fehlen weiterer klinischer Anomalien (z. B. neurologische Defizite die mit dem Vorderhirn oder Erkrankungen innerhalb des Schädels im Zusammenhang stehen, Zeichen die auf Vergiftung oder Krankheit anderer Organsysteme hinweisen, ...)
  • Beginn, Verlauf und Verteilung der anderen neurologischen Anomalien (sofern vorhanden)

Mittels diagnostischer Bewertung soll also festgestellt werden, ob eine Epilepsie vorliegt & welche Ursache diese hat (strukturell, metabolisch, immunvermittelt, genetisch, unbekannt) oder ob es sich um reaktive Anfälle (z. B. Vergiftung) handelt.

Bewegungs- & Verhaltensstörungen

Das limbische System der Katze, das aus Teilen des Groß- und Zwischenhirns besteht, steuert ihr Verhalten. Bei metabolischen und strukturellen Erkrankungen des Vorderhirns können Verhaltensänderungen bzw. Anfälle die einzigen Anomalien sein. Nebenwirkungen von Phenobarbital und Kaliumbromid bewirken evtl. Ruhelosigkeit oder Sedierung. Frühere Erlebnisse wie z. B. Traumata oder Umweltveränderungen sind ebenfalls in der Lage Verhaltensauffälligkeiten zu generieren. Unterschwellige Veränderungen der Katze können nur vom Halter, in der gewöhnlichen Umgebung festgestellt werden. Diese Informationen sollten während der Anamnese notiert werden. Beispiele für Verhaltensanomalien während der Untersuchung:

  • Rückzug
  • Aggression
  • Zielloses und/oder zwanghaftes umherwandern
  • Neigung zum drehen und kreisen zu einer Seite hin

  • Head pressing - Kopfdrücken

Vorderhirnstörungen die mit Unausgeglichenheit der Aufgabenverteilung einhergehen, können eine neurologische Anomalie verursachen, die als Halbseitenneglect bekannt ist. Diese macht sich dadurch bemerkbar, dass die Katze auf einen Umgebungsreiz auf einer Seite seines Körpers keine Reaktion zeigt. Dem Besitzer kann das bereits im Alltag z. B. bei der Fütterung aufgefallen sein.

Ataxie - neuromuskulärer Kollaps

variable Auslöser - Ruhe bis Aktivität. Normales Bewusstsein, sofern die Atmung nicht beeinträchtigt ist. Häufig schlaffe Körperhaltung (z. B. Myasthenia gravis s.d.). Vereinzelt bei Myopathie auch spastisch. Unwillkürlichen Bewegungen kommen vor und werden beim Stehversuch verstärkt. Begleitet von Schluckstörungen teilw. schmerzhaft (Dysphagie), Beeinträchtigung der Lautgebung (Dysphonie) und Aufstoßen. Untersuchungen reichen von unauffällig bis Muskelschwund (Atrophie), Muskelschmerzen und/oder verminderte Reflexen. Rasse - & Altersspezifische Prädisposition sind möglich. 

Metabolischer Kollaps

Zusammenhang mit Fütterungszeiten/Aufregung möglich. Bewusstsein wird in seiner Ausprägung und Dauer unterschiedlich beeinflusst. Schlaffe Körperhaltung, teilw. auch spastisch (z. B. Hypokalzämie). Unwillkürliche Bewegungen bei niedrigem Blutzucker/Kaliumwerten in Form von Gesichtszuckungen. Denkbare vorherige Auffälligkeiten sind Unterernährung, Depression, extreme Urinausscheidung (Polyurie), starkes Durstgefühl (Polydipsie), Erbrechen, Gewichtsverlust.

Periphere vestibuläre Dysfunktion

variable Auslöser. Typisch sind Ataxie, Kopfneigung und abnormale Augenbewegungen (Nystagmus). Das Bewusstsein reicht von normal bis depressiv. Meist kommt es zu spastischen Bewegungen - insb. beim Versuch zu stehen. Denkbare vorherige Anzeichen sind zeitweises Kopfneigen, Ataxie, Kopfzittern, Ohrenerkrankungen, Erbrechen. Untersuchungen sind stellenweise normal.

Synkope

Schlaffer Körper mit schneller Erholungsphase ohne abnormales Verhalten. Unwillkürliche Bewegungen treten nicht in Erscheinung. Im Vorfeld können Husten und verstärkte Atemgeräusch auftreten. Untersuchungen fördern meist Arrhythmie, Pulsdefizite, abnormale Lungengeräusche und Zyanose zutage.

Myasthenia gravis

Normales Bewusstsein in Kombination mit Versteifung, Zittern oder Schwäche. Anzeichen können durch körperliche Aktivität ausgelöst werden. Myopathien sind teilw. in der Lage ähnliche Symptome zu verursachen.

Bewegung während des Schlafs

Während die Katze schläft, kommt es zum Zucken, Paddeln oder Lautgebung. Die Katze lässt sich Aufwecken und zeigt keine weiteren Anzeichen.

Enzephalopathie (z. B. hepatische Enzephalopathie)

Charakeristisch sind Orientierungslosigkeit, Ataxie, Blindheit, abnormalem Verhalten, übermäßiges speicheln.

Kataplexie

Auslöser wie bei Narkolepsie. Normales Bewusstsein wenn sie ohne Narkolepsie auftritt. Schlaffe Körperhaltung und Untersuchungen zeigen keine Auffälligkeiten.

Schmerz

insbesondere Nackenschmerzen, können zu (Muskel)Versteifung und Lautgebung führen. Das Bewusstsein ist nicht beeinträchtigt.

Verhaltensstörung

Stereotypien können zu bestimmten bizarren Verhaltensmustern führen. Diese Episoden können in der Regel unterbrochen werden und es gibt keine weiteren Anzeichen. 

Narkolepsie

Als Auslöser gelten Aufregung/Fütterung. Bewusstseinsverlust. Oft in Kombination mit Kataplexie ohne unwillkürlichen Bewegungen. Untersuchungen zeigen keine Auffälligkeiten.

Differenzialdiagnose der Anfallsaktivität bei Katzen (allgemein)

Die Auslöser & Nachahmer werden bereits an anderer Stelle (Link am Textanfang) ausführlich erläutert, weshalb an dieser Stelle nur einige Beispiele folgen.

Anomalien/angeborene Erkrankungen - Wasserkopf (Hydrozephalus), metabolische Speicherkrankheit (selten) 

Unbekannt - erworbene/unbekannte Epilepsie, Hyperästhesie-Syndrom 

Infektiöse, entzündliche, immunvermittelte Krankheiten - bakterielle Erkrankungen, Mykosen, Protozoen (nicht-eitrige Meningoenzephalitis [häufig]), Virusinfektionen (Feline Infektiöse Peritonitis FIP [häufig], Katzenimmunschwächevirus [häufig]

Stoffwechselkrankheiten - Hypoglykämie [häufig], Hypokalzämie, Hypernatriämie, Polycythemia, portosystemischer Shunt, Hyperthyreose

Neoplasien - Lymphom [häufig], Meningeom [häufig], metastasierter Tumor

Vergiftung - Aspirin, Ethylenglykol, Blei, Organophosphate [häufig], Metronidazol

Trauma - erhebliche Kopfverletzung, Gefäßstörungen

Blutgefäße - Feline ischämische Enzephalopathie, Hypertonie [häufig]

Ernährung - Thiamin-Mangel 

 

 

 

 

 

 

 

 

Differenzialdiagnose der Anfallsaktivität bei Katzen (Altersgruppe & Häufigkeit)

Alter unter 6 Monaten

  • Gefäß - selten

  • entzündlich/ansteckend-infektiöse Enzephalitis (Toxoplasma, bakteriell, FIP, Cryptococcus) * Meningoenzephalitis unbekannter Ätiologie (vermutlich immunvermittelt); selten

  • Trauma* - häufig

  • Vergiftung* - häufig

  • Anomalie - selten

  • Stoffwechsel - hepatische Enzephalopathie

  • unbekannt - sehr selten in diesem Alter

  • Neoplastisch - sehr selten in diesem Alter

  • Ernährung - Thiamin-Mangel

  • Degenerativ*- häufig z. B. Lysosomale Speicherkrankheit

Alter 6 Monate bis 6 Jahre

  • Gefäß - selten

  • entzündlich/ansteckend-infektiöse Enzephalitis (Toxoplasma, bakteriell, FIP, Cryptococcus) * Meningoenzephalitis unbekannter Ätiologie (vermutlich immunvermittelt); Selten

  • Trauma* - häufig

  • Vergiftung* - häufig

  • Anomalie - selten

  • Stoffwechsel - hepatische Enzephalopathie

  • unbekannt - selten

  • Neoplastisch - selten 

  • Ernährung - Thiamin-Mangel

  • Degenerativ(*) - mäßig bis selten 

Alter über 6 Jahre

  • Gefäß - selten

  • entzündlich/ansteckend-infektiöse Enzephalitis (Toxoplasma, bakteriell, FIP, Cryptococcus) * Meningoenzephalitis unbekannter Ätiologie (vermutlich immunvermittelt); selten

  • Trauma * - häufig; kann eine chronische Reaktion auf ein früheres Trauma sein

  • Vergiftung* - häufig

  • Anomalie - selten

  • Stoffwechsel – niedr. Blutzucker, Schilddrüsenüberfunktion  

  • unbekannt - selten

  • Neoplastisch* - primärer/metastatischer Hirntumor – häufig 

  • Ernährung - selten

  • Degenerativ - selten 

Prüfung bei einem erstmaligen Anfall

Bei einem erstmaligem Anfall sollten folgende Werte gechekt werden.

  • überhöhter Blutzucker (Ausschluss einer Insulinüberdosis, Septikämie, Insulinom) 

  • Elektrolytstörung (Behandlung)

  • Herzrhythmusstörung (Bewertung)

  • Polycythaemia vera (Blutentnahme)

  • Bluthochdruck (Behandlung)

  • erhöhte Ammoniakwerte (Abklärung einer Leberfunktionsstörung)

Sofern keine dieser oder weiterer bekannter „Verdächtiger“ identifiziert wird, entscheidet das Alter der Katze über den weiteren Verlauf. Liegt es zwischen 1 und 5 Jahren erfolgt die weitere Beobachtung, kommt es zu Folgeanfällen oder Status epilepticus wird eine (Notfall)behandlung eingeleitet. Ist die Katze älter als 5 Jahre erfolgt sofort die medikamentöse Behandlung sowie die Abklärung evtl. Hirnschäden.

toxikologische Tests

Im Allgemeinen beruht der Verdacht einer Vergiftung oft auf der Anamnese und/oder dem akuten Anfall in Kombination mit anderen neurologischen Ausfällen.

  • Erregung/Hyperaktivität oder verminderter Bewußtseinszustand

  • Stupor/Koma

  • Muskelzittern/unwillkürliches Muskelzucken und Ataxie - begleitet von Erbrechen

  • Durchfall

  • Speicheln

  • Bronchialverengung (Bronchokonstriktion)

  • verlangsamter (Bradykardie) oder beschleunigter (Tachykardie) Herzschlag

  • Überhitzung

Eine chronische Bleivergiftung kann zu wiederkehrenden Anfällen als einzige Anomalie führen. Sofern bereits eine Vergiftungsquelle in Verdacht steht, können spezifische Tests wie z. B. auf Blei, Metaldehyd, Strychnin, Penitrem A und Roquefortin gute Ergebnisse bringen. Futter- oder Köder, Erbrochenes oder aus Spülungen stammender Mageninhalt, Wasser, Blut, Urin können ebenfalls im Labor untersucht werden (Screening). Es ist zu beachten, das je nach Proben unterschiedliche Aufbewahrungsmechanismen beachtet werden müssen (z. B. Einfrieren bei Metaldehyd & Zinkphosphid). Eine Ethylenglykolvergiftung kann durch kolorimetrische Tests (Konzentrationsbestimmung einer Substanz durch eine Vergleichsmessung mit einer Farbskala) oder Labortests mit Urin und Serum aufgedeckt werden. Aber Achtung - diese Tests können bei Katzen zu falsch negativen Resultaten führen, da die toxische Dosis von Ethylenglycol bei Katzen unter der Nachweisgrenze des Testkits liegen kann. Bestimmte Neurotoxine wie z. B. Bromethalin können nur in postmortalem Körpergewebe identifiziert werden.

weitere Hinweisgeber

  • Sehr plötzliches Auftreten von Anfällen & abnormales Verhalten machen eine vaskuläre Ursache wahrscheinlich.

  • Bestehen bereits mehr als drei Wochen vor den Anfällen systemische Anzeichen kommt eine Kryptokokkose & FIP in Betracht.

  • Abnormales Verhalten mit/ohne Kreisen & ein Alter von über 10 Jahren, kann als Ursache Meningeom bedeuten.

  • Bei Polycythämie vera stehen Magen-Darm Störungen und dunkle Schleimhäute im Vordergrund.

  • Der erste Anfall ereignet sich meist zwischen 6 Monaten und 5 Jahren. Dabei gilt, je jünger die Katze ist, desto schwerer ist die Ausprägung der Epilepsie. Liegt der Beginn unter dem 2. Lebensjahr, ist die Erkrankung häufig beständig.

  • Ein plötzlicher Beginn von Cluster-Anfällen oder Status epilepticus lässt eine Vergiftung oder strukturelle Hirnerkrankung vermuten.

  • Mehr als 2 Anfälle nach Beginn und innerhalb einer Woche können unbekannte Epilepsie bedeuten.

  • Fokalen Anfällen oder neurologischen Defiziten kann eine strukturelle Erkrankung innerhalb des Schädels zugrunde liegen.