Vergiftungen bei Katzen: zentrales Nervensystem (ZNS)

 

Viele giftige Substanzen wie Biotoxine, Drogen und Umwelt- und Industriechemikalien greifen das Nervensystem von Katzen an. Ein großer Teil davon ist in der Lage, die lebenswichtige Bluthirnschranke zu überwinden und dadurch neurologische Ausfälle zu verursachen. Psychopharmaka verursachen beispielsweise Auswirkungen auf das ZNS, ohne dabei auffallende krankhafte Schäden im Körper zu hinterlassen. Zudem ähneln die verursachten Symptome oft anderen Erkrankungen des ZNS - wie stoffwechselbedingten, infektiösen, neoplastischen oder traumatischen Schäden. Die Diagnose einer Toxikose des zentralen Nervensystems stellt daher eine besondere Herausforderung dar.

potenzielle ZNS-Gifte 

Arzneien/Drogen

  • Amphetamine (Ritalin ®, Crack, Methamphetamin, MDMA) > stimulierend

  • Antihistaminika (Diphenhydramin, Hydroxyzin, Loratadin) > stimulierend bei hohen Dosen - sedierend bei niedrigen Dosen

  • Atropin > Anfälle bei hohen Dosen

  • Barbiturate (Phenobarbital) > sedierend

  • Benzodiazepine (Diazepam, Alprazolam) > sedierend, Bewegungsstörungen, selten Erregung

  • Bromid > sedierend, schwächend, Bewegungsstörungen

  • Bupropion (Wellbutrin ®) > stimulierend bei hohen Dosen, beruhigend bei niedrigen Dosen

  • Buspiron > stimulierend bei hohen Dosen, beruhigend bei niedrigen Dosen

  • Kokain > stimulierend

  • Cyproheptadin > stimulierend bei hohen Dosen, beruhigend bei niedrigen Dosen

  • Dekongestiva [abschwellend] (Pseudoephedrin, Phenylephrin, Ma Huang/Ephedra/Meerträubel) > stimulierend

  • 5-Fluorouracil (Efudex ®) > Anfälle

  • allgemeine Anästhetika (Isofluran, Halothan, Propofol) > sedierend

  • Ibuprofen > Anfälle, bei hohen Dosen Koma

  • Isoniazid > Anfälle

  • Lithium > Anfälle

  • Lokalanästhetika (Lidocain, Benzocain) > Anfälle bei hohen Dosen

  • LSD > stimulierend, halluzinogen

  • MAO-Hemmer (Anipryl ®) > stimulierend bei hohen Dosen, beruhigend bei niedrigen Dosen

  • Methylxanthine (Koffein, Theobromin, Theophyllin) > stimulierend

  • Mirtazepin (Remeron ®) > stimulierend bei hohen Dosen, beruhigend bei niedrigen Dosen

  • Trazodon > stimulierend bei hohen Dosen, beruhigend bei niedrigen Dosen

  • Opiate (Hydrocodon, Morphin, Codein, Butorphanol, Tramadol) > sedierend, selten Erregung und Anfälle

  • Phenothiazine (Acepromazin, Chlorpromazin) - sedativ

  • Piperazin > Bewegungsstörungen, Zittern

  • Salicylate > Anfälle bei hohen Dosen

  • Serotonin Wiederaufnahmehemmer > stimulierend bei hohen Dosen, beruhigend bei niedrigen Dosen

  • trizyklische Antidepressiva (Amitriptylin, Clomipramin) > stimulierend in hohen Dosen, beruhigend bei niedrigen Dosen

Biotoxine

  • Asclepias spp. (Seidenpflanze) > Schwäche, Zittern, Anfälle

  • Atropa Belladonna (schwarze Tollkirsche) > Zittern, Lähmung, Halluzinationen

  • schwarze Witwe > schlaffe Lähmung

  • blaugrüne Alge > Zittern, Anfälle

  • Botulismus (Fleischvergiftung) - schlaffe Lähmung

  • Brunfelsia spp. (Nachtschattengewächs) > wochenlanges Zittern, Anfälle

  • Calycanthus spp. (Gewürzstrauch) > Anfälle

  • Cannabis sativa (Marijuana) > sedierend, Bewegungsstörungen, Koma teilw. erregend

  • Cicuta spp. (Wasserschierling) > Krampfanfälle

  • Conium spp. (gefleckter Schierling) > erst stimulierend dann sedierend

  • Korallenschlange > Bewegungsstörungen, Zittern, Lähmung

  • Datura spp. (Stechapfel) > Zittern, Lähmung, Halluzinationen

  • ätherische Öle - sedierend, Bewegungsstörungen, Schwäche, Zittern, bei hohen Dosen Anfälle

  • Eupatorium rugosum (weißer Natternwurz) > Zittern, Bewegungsstörungen, steifer Gang, Schwäche

  • Ipomoea spp. (Prunkwinde) > stimulierend, halluzinogen

  • Lobelia spp. (Lobelie) > erst stimulierend, dann sedierend

  • Lupinus spp. (Lupine) > erst stimulierend, dann sedierend

  • Pilze, Isoxazol - wechselnd stimulierend & sedierend

  • Pilze, Monomethylhydrazine - Zittern, Anfälle, Koma

  • Pilze, psychedelische - Bewegungsstörungen, Zittern, Halluzinationen

  • Nerium Oleander > Zittern, Anfälle

  • Nikotin - zunächst stimulierend dann sedierend

  • Tetanus (Bakterium) > Muskelversteifung

  • Zeckenlähmung - Schwäche, Lähmung

  • tremorgene Mykotoxine (Penitrem A, Roquefortin) - Zittern, Anfälle

Pestizide

  • 4-Aminopyridin > stimulierend, Zittern, Anfälle - findet auch als MS-Medikament Verwendung.

  • Amitraz > sedativ

  • Anticholinesterase-Hemmer Insektizide (Organophosphate, Carbamate) > Anfälle

  • Avermectine (Ivermectin, Moxidectin) > Schwäche, Bewegungsstörungen, Zittern, Anfälle, Koma

  • Bromethalin > stimulierend in hohen Dosen, beruhigend bei niedrigen Dosen

  • 3-Chlor-p-toluidinhydrochlorid (Starlicide ®) > sedierend, Schwäche, Lähmung

     

  • DEET (Diethyltoluamid) > Anfälle

  • Metaldehyd > Anfälle, Zittern

  • Organochlorinsektizide (Lindan, DDT) > Anfälle

  • Pyrethrin > Zittern

  • Natriumfluoroactat (1080) > wiederkehrende Anfälle, stimulierend

  • Strychnin > Anfälle

  • Zinkphosphid > Bewegungsstörungen, Anfälle

Verschiedenes

  • Alkohol > sedierend

  • Kohlenmonooxid > sedierend, Schwäche, Bewegungsstörungen

  • Ethylenglykol > sedierende Wirkung, Bewegungsstörungen, Zittern, Anfälle

  • Blei > wiederkehrende Stimulation und Sedierung

  • Lebergifte > sekundär zu hepatischer Enzephalopathie

  • organische Quecksilberverbindungen > Erblindung, Bewegungsstörungen, Lähmung, Koma

  • Phenol > Zittern, in hohen Dosen Anfälle 

  • Propylenglycol > sedierende Effekte, Bewegungsstörungen, Anfälle

  • Natrium > Zittern, Anfälle

  • Thiaminase (roher Fisch) > sedierend, Bewegungsstörungen, unvollständige Lähmung

  • Thallium > Zittern, Schwäche, Anfälle

  • Terpentin > sedierend, schwächend, Bewegungsstörungen, Koma

Anatomie & Physiologie

Das Nervensystem gliedert sich in zwei Bereiche - zentrales (ZNS) & peripheres (PNS) Nervensystem. Im zentralen Nervensystem, bestehend aus Hirn & Rückenmark, werden Körperbewegungen koordiniert. Die notwendige Verbindung zwischen dem ZNS und den Körperteilen wird hingegen durch das PNS gewährleistet. Die wichtigste Basiseinheit des Nervensystems ist das Neuron oder auch Nervenzelle genannt. Neuronen leiten Nervenreize nicht nur weiter, sondern auch ein. Die Grundstruktur eines Neurons besteht aus dem Körper (Soma), den astartigen Fortsätzen (Dendriten) und den Nervenzellfortsätzen (Axonen). Die Dendriten empfangen Stimulationen von anderen Nervenzellen und leiten diese an das Soma weiter. Das von Myelin, einer Biomembran umgebene Axon hingegen, leitet Impulse vom Soma weg. Myelin bewirkt außer einer elektrischen Isolierung auch eine schnelle Impulsweiterleitung. Beeinflusst werden die Nervenimpulse durch freigesetzte Neurotransmitter, das sind biochemische Stoffe die Reize weitergeben, verstärken, schwächen oder abwandeln. Anregende Neurotransmitter animieren Nervenzellen durch die Herabsetzung des Ruhepotenzials zum >>Feuern<<. 

Beteiligte Neurotransmitter (Botenstoffe)

  • Acetylcholin: Hat eine hemmende Wirkung auf das Herz, aber eine stimulierende auf andere Organe. 

  • Katecholamine (Dopamin, Noradrenalin, Epinephrin): Werden von den Nebennieren bei Stress freigesetzt. Epinephrin und Noradrenalin stehen außerdem im Zusammenhang mit dem sympathischen Nervensystem (Kampf- oder Fluchtreaktion). Dopamin beeinflusst die Muskelkontrolle und autonome Körperfunktionen.

  • Aminosäurederivate (Serotonin, Gamma-Aminobuttersäure oder GABA, Glycin, Histamin, Asparaginsäure, Glutaminsäure): GABA ist der hauptsächliche einleitende Neurotransmitter und reguliert die neuronale Erregbarkeit im gesamten Nervensystem. Glycin ist ein hemmender Neurotransmitter, der im Rückenmark, im Hirnstamm und in der Netzhaut vorkommt.

  • Neuropeptide: Substanz P, Orexine, Endorphine

  • Thyreoliberin: Wird von Nervenzellen im Hypothalamus gebildet.

Der Hauptschutzmechanismus des ZNS ist die Blut-Hirn-Schranke. Die Blut-Hirn-Schranke bildet eine selektiv-durchlässige Barriere zwischen Kapillaren im Gehirn und dem Nervengewebe. Durch diese Filterung gelangen zwar kleine Moleküle und Lipidmoleküle hinein, andere Substanzen werden jedoch abgewiesen. Das PNS wird nicht durch die Blut-Hirn-Schranke geschützt und ist damit potenziellen Giften ausgesetzt.

Wirkmechanismen

Die meisten Vergiftungen werden durch Toxine verursacht, die direkt Nervenzellen angreifen oder die Freisetzung/Anbindung von Neurotransmittern beeinflussen. Der gestörte Neurotransmitter Haushalt kann zur Stimulation als auch Hemmung der Nervenzellen führen - mit dem Ergebnis einer Erregung oder Sedierung. Abhängig von der Art & Menge des Neurotransmitters, der Nervenzelle und den Rezeptoren. Eine Stimulation des ZNS kann beispielsweise durch die von Organophosphor (Insektizid) eingeleitete Acetylcholin-Freisetzung oder die durch Strychnin verursachte Abnahme der Glycin-Neurotransmission verursacht werden. Die Folgen reichen von Hyperaktivität bis zu Aggressivität und/oder Anfällen.

  • Sauerstoffmangel: Das Gehirn hat für seine Größe einen erstaunlich hohen Blutdurchfluss - was auch seinem hohen Sauerstoffbedarf geschuldet ist. Dementsprechend ist es sehr empfindlich gegenüber Sauerstoffmangel. Hypoxie - also der Sauerstoffmangel im Gewebe - ist eine häufige Ursache für neuronale Schäden und tritt oft sekundär zu einem systemisch niedrigen Blutdruck, Hirninfarkt oder Gefäßverletzungen auf. Zur Hauptgefahr bei Vergiftungen gehört die Verschlechterungen der Atmung mit anschließendem Sauerstoffmangel und einhergehenden Bewusstseinsveränderungen.

  • Unterzuckerung: Hirnschäden können auch sekundär zu einer Unterzuckerung (Hypoglykämie) auftreten. Die Unterzuckerung des Gehirns kann zu Defiziten der Hirnrinde und des Hirnstamms führen.

  • Ionengleichgewicht: Störung durch übermäßige zellinterne Anhäufung von Calcium.

  • Zellskelett Schäden

  • Proteinsynthese: vermindert - Verlust des rauen endoplasmatischen Retikulums.

  • Gliazellschäden

Auswirkungen

Gifte erzeugen im Nervensystems im Vergleich zu anderen Körpersystemen eine Vielzahl von klinischen Anzeichen. Abhängig von der Substanz, Dosis und Expositionsweg sind teilweise sogar mehrere Bereiche betroffen. Es ist ebenfalls möglich, das sich die auftretenden Symptome ins Gegenteil verkehren - wie beispielsweise eine beginnende Dämpfung des ZNS, gefolgt von einer Stimulation. Viele Neurotoxika sind in der Lage die Neurotransmission zu beeinflussen, ohne dabei offensichtliche Verletzungen zu hinterlassen. Als Neurotransmission wird der Prozess verstanden, bei dem Signalmoleküle (Neurotransmitter) vom Axon eines Neurons freigesetzt werden, um sich an die Rezeptoren auf den Dendriten eines anderen Neurons zu binden und mit diesen zu reagieren. Funktionelle Neurotoxika können sowohl ZNS, PNS als auch das autonome Nervensystem (ANS) beeinflussen. Sie entfalten ihre Wirkung, indem sie die Synthese, Lagerung, Freisetzung, Bindung, Wiederaufnahme oder den Abbau von Neurotransmittern verhindern. Sie können auch die axonale Übertragung über Natrium-, Kalium-, Chlorid- oder Calciumkanäle beeinträchtigen und deren Aktionspotential verändern. Es gibt einige strukturelle Veränderungen, wie Neuronopathie, Anoxopathie und Myelinopathie, die durch Nervengifte verursacht werden. 

  • Neuronopathie: Bei der Neuronopathie greifen Nervengifte direkt den Zellkörper an - was seinen Zelltod und sekundäre axonale Degeneration bedeutet. Als Reaktion auf den Verlust von Nervenzellen kommt es zur Ansammlung von Gliazellen in dem betroffenen Bereich (Gliose), Zellteilung von Astrozyten (Mehrheit der Gliazellen) und/oder Mikrogliazellen. Neuronopathien können selektiv oder diffus sein. 

  • Axonopathie: Gliazellen verursachen bei der Axonopathie eine Degeneration des distalen Teils des Axons (Waller'sche Degeneration) inkl. seiner Durchtrennung. Das Zellplasma schwillt an und die sog. Nissl-Schollen lösen sich auf. Der Zellkörper wird einer Chromatolyse (Auflösung) unterzogen und es kommt zu einer peripheren Kernverlagerung mit anschließendem Zelltod. Sofern der Zellkörper nicht abstirbt, kann das Axon langsam Nachwachsen. Bei axonalen Schäden wird häufig auch eine sekundäre Demyelinisierung beobachtet. Nervenzellen mit großer Axonlänge sind davon besonders betroffen.

     

  • Myelinopathie: Zur Myelinopathie kommt es, wenn Gifte einen Myelinverlust (Demyelinisierung) oder eine Flüssigkeitsansammlung (Ödem) in der Myelinhülle verursachen und so die Myelinschicht zerstören - was eine Verlangsamung der Nervenübertragung verursacht.

Heilungsmöglichkeiten & Prognose

Schädigungen des Nervensystems sind meistens dauerhaft, da sich die Nervenzellen bei Erwachsenen nur geringfügig neu bilden. Bis auf wenige Ausnahmen sind zentrale Neuronopathien nicht heilbar. Bei Schäden im peripheren Nervensystem kann es zumindest teilweise zu einer Regeneration kommen. In manchen Fällen gelingt dem Körper dort eine Remyelinisierung - im ZNS ist das deutlich seltener der Fall.